Die französische Philosophin und Schriftstellerin Muriel Barbery schreibt in ihrem wunderbaren Roman „Die Eleganz des Igels“ über die Sprache: „Die Sprache, dieser Reichtum des Menschen, und ihr Gebrauch, dieses Erzeugnis der sozialen Gemeinschaft, sind unverletzliche Werke. Dass sie sich im Laufe der Zeit entwickeln, verändern, in Vergessenheit geraten und neu entstehen, während der Verstoß gegen sie bisweilen zur Quelle einer größeren Fruchtbarkeit wird, ändert nichts an der Tatsache, dass man, will man sich mit ihnen dieses Recht zum Spielen und zur Veränderung herausnehmen, ihnen zuvor volle Unterwerfung gelobt haben muss.“

Ich bin selten auf einen Text gestoßen, der mir so sehr aus dem Herzen spricht, wenn es darum geht zu vermitteln, warum Studierende der Geschichte, die sich mit gefilmten Erinnerungen beschäftigen möchten, etwas über filmische Sprache und ihre Wirkung wissen sollten. Warum sie sich mit Einstellungsgrößen, Brennweiten, Frosch- oder Vogelperspektive etc. beschäftigen müssen. Warum sie Regeln für die Bild-Montage und -Übergänge, Text-Bild-Schere und filmische Dramaturgie lernen sollen. Ganz abgesehen von Kenntnissen über digitale Formate, die sich von Handy-Videos bis 4K erheblich unterscheiden.

Nein, eine „volle Unterwerfung“ unter die Grundregeln des filmischen Handwerks würde ich nicht verlangen, aber doch ein umfangreiches Wissen über das Medium, Aufzeichnungs­techniken, filmische Gestaltungsmittel und deren Wirkung um dann, im besten Fall, alles wieder zu vergessen und eine eigene Form zu entwickeln…

Bei gefilmten Interviews haben wir es nicht nur mit gesprochenem Wort zu tun, sondern auch mit Bildsprache. Ein sprechender Mensch ist mit all seinen Gesten und Gebärden in einem Raum abgebildet, mit seiner Haltung, seinem Zögern, Schweigen, Zuhören und Schauen. Dazu die Interviewerin, die sich als Fragestellerin, Zuhörerin und Regisseurin des Geschehens im Raum befindet und an manchen Stellen zu hören ist. Dann die unsichtbare Person an der Kamera, die über die Verwendung der Gestaltungsmittel entscheidet, sie nach ihrem Wissen, Erfahrung und Gefühl einsetzt, und somit am Ende das, was im Bild zu sehen ist, bestimmt: die Abbildung des/der Interviewten, das Licht, die Einstellungsgröße, die Kamera-Perspektive, was vom Raum zu sehen ist etc.. Und es gibt die ebenso unsichtbare Person unter dem Kopfhörer, die für die Aufzeichnung des Tons verantwortlich ist.

Die Filmaufnahmen „lesen“ zu können, in ihrer Komplexität und möglichen Entstehungsgeschichte zu erfassen und dazu den Inhalt des Gesagten gründlich zu studieren, das sollte Grundbedingung dafür sein, ein Interview zu bearbeiten, zu kürzen und mit anderen Bildern oder Aussagen zu verweben – es folglich zu verändern, mit ihm zu spielen und etwas Neues entstehen zu lassen: den eigenen Film.

Auch dass es sich bei lebensgeschichtlichen Interviews um sehr persönliche Geschichten handelt, sollte der Kreativität von filmschaffenden Historiker/innen Präzision abverlangen. Der Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Ruth Klüger, Überlebende der KZ Theresienstadt, Auschwitz und Christianstadt, sind gefilmte Erinnerungen von Projekten der oral history äußerst suspekt. In der „Sammelwut von oral histories, wie sie es nennt, würde man zum Objekt, zum ausgebeuteten Leidensobjekt: „Man wird nicht zum Zeugen, sondern zum Rohmaterial. Der denkende Mensch, der dahinter steckt und sein Leben bewältigt, ist nebensächlich. Unsere Fähigkeit, Geschehenes von Erinnertem zu unterscheiden, wird in Frage gestellt. Wir sind dann nur noch Dokumente, lebende Dokumente, die andere lesen und deuten müssen. Es entsteht eine Art des Zuhörens, die sich völlig deckt mit ihrem Gegenteil, dem Nichtzuhörenwollen.“ So schrieb Ruth Klüger 1996 in ihrem Buch „Von hoher und niedriger Literatur“. Ein Plädoyer für genaues Hinsehen und Zuhören! Denn, so sagte Ruth Klüger bei einer Rede vor dem Parlament der Republik Österreich im Mai 2011: „Wenn man die Zeugen … befragt, ihnen dann nicht zuhört, sobald sie ausführlich werden wollen, sondern den eigenen Gefühlen den Vorrang gibt, wie das auch heute noch oft bei der Auswertung von „oral history“ geschieht, so stellt sich leicht eine Verdrehung des Geschehens ein.“

Vom Interview zum Film

Wenn man ein lebensgeschichtliches Interviews führt, erhält man nicht nur einen tiefen Einblick in das Leben des/der Interviewten, sondern oft auch in die Familie und das nähere Umfeld. Im Verlauf des Interviews entsteht ein anschauliches Bild einer Person und seiner Lebensgeschichte, ein Bild, das mein Gegenüber mir – der Interviewerin – zu präsentieren bereit war. Was mir verschwiegen wurde, einem anderen – jüngeren, älteren, männlichen – Gegenüber unter anderen Umständen erzählt worden wäre, weiß ich nicht. Wenn ich ein von mir geführtes Interview anschaue oder lese, läuft ein eigener Film ab, in dem ich mich an Details des Gesprächs erinnere: Emotionen, Stimmungen, Gesten, Klänge. Bestimmte Momente der Lebensgeschichte scheinen mir zentral für die Person zu sein, einzelne Erfahrungen ausschlaggebend für spätere Ereignisse. Dieser „Parallelfilm“ ist geprägt von der gemeinsamen Erfahrung der Begegnung beim Interview.

„Kill your darlings first“ ist eine gebräuchliche Anleitung für die Filmmontage, die genau auf diesen Parallelfilm anspricht. Es meint die Sequenzen, die ich am meisten liebe, die vielleicht sogar nur ich wirklich verstehe, weil sie mit dem Moment der Begegnung verwoben sind, und die andere unter Umständen ganz anders wahrnehmen.

Die Studierenden des MAHEC (Master in Contemporary European History) sollten im praktischen Teil des oral-history-Seminars Filme erstellen. Die Arbeitsgruppen wählten Themen zur luxemburgischen Geschichte des 2. Weltkriegs und konnten aus dem Bestand der von mir geführten über 100 Interviews mit Zeitzeug/innen aus dem Forschungsprojekt PARTIZIP II Sequenzen für ihren Film auswählen. Es war interessant zu sehen, wie unterschiedlich die Herangehensweise sein kann: die einen suchten Aussagen, die ihre Thesen bestätigen sollten, andere erarbeiteten aufgrund von Sequenzen aus den Interviews ihr Filmkonzept oder strukturierten ihre erste Idee neu. Wieder andere suchten einzelne Statements als lebendige Stichwortgeber für ihr Vorhaben, in dem die eigene These im Vordergrund stand. Je entschiedener das eigene Konzept ist, umso schwieriger gestaltet sich die Suche nach passenden Aussagen. Inwieweit die Auswahl der Interview-Sequenzen dann den jeweiligen Interviewpartner/innen gerecht wird, sollte – wenn man Ruth Klüger ernst nimmt – unbedingt überprüft werden. Experimentelle Filmideen brauchen ein intensives Sich-Einlassen auf die Menschen und ihre erzählten Geschichten.

Die fertigen Filme zeigen, dass sich die gründliche Auseinandersetzung mit dem „Rohmaterial“ lohnt, auch wenn vermutlich die wenigsten ahnten, wie zeitaufwändig und wie viel Arbeit es ist.

Ich wünsche mir viel, viel mehr solcher Experimente.

Loretta Walz (Januar 2018)